„Die Cadini sind nichts für den schnellen Blick. Sie sind kein Postkartenmotiv, das sich sofort aufdrängt – sie sind ein Geflecht aus Fels, Schatten, Wind und Weg, das sich nur jenen öffnet, die bereit sind, sich einzulassen. Kein Gipfel hier sagt: ‚Sieh her‘. Stattdessen flüstert jeder Zacken, jeder Einschnitt: ‚Geh weiter, schau genauer.‘ Es ist eine Landschaft, die nicht glänzt, sondern nachhallt. Nicht das Bild bleibt – sondern das Gefühl, dort gewesen zu sein. Zwischen diesen steinernen Mauern verliert man das Weite – und findet etwas Tieferes: Stille, Konzentration, Gegenwart.“
Die Cadini di Misurina sind eine markante Berggruppe in den südlichen Dolomiten, zwischen dem Lago di Misurinaund den berühmten Drei Zinnen. Der Name „Cadini“ leitet sich vom ladinischen Wort ciadìn ab und bedeutet „Kessel“ oder „Kar“ – eine treffende Beschreibung, denn das Gebirge besteht aus einem verzweigten System aus Felszacken, Schluchten und Kareinschnitten, das an ein steinernes Labyrinth erinnert. Im Gegensatz zu den offen daliegenden Dolomiten-Klassikern wirken die Cadini geschlossener, dramatischer, fast verwunschen. Besonders eindrucksvoll sind die schmalen Grate, die sich wie Nadeln in den Himmel schrauben, und die engen Steige, die dazwischen verlaufen – darunter der berühmte Sentiero Bonacossa, ein alpiner Weg durch die östliche Cadini-Kette. Die Region ist weniger frequentiert als die Nachbarberge, bietet aber eine unglaubliche Fülle an Landschaftseindrücken auf engem Raum – ideal für Bergwanderer, Fotograf*innen und alle, die in die wilde Seele der Dolomiten eintauchen möchten. Zentrale Stützpunkte sind die Rifugio Fonda-Savio im Westen und die Rifugio Col de Varda oberhalb des Lago di Misurina.
Es gibt Orte in den Dolomiten, die sich nicht sofort zeigen – die keine großen Gipfelnamen tragen, aber umso mehr Charakter besitzen. Die Cadini di Misurina sind so ein Ort: ein wildes, zerklüftetes Labyrinth aus Türmen, Schluchten und schmalen Steigen. Wer hier unterwegs ist, verliert den weiten Horizont – und gewinnt dafür ein Gefühl für das Detail, für die Stille, für den Takt des eigenen Schrittes.
Unsere mehrätigie Tour im August 2024 führte uns tief hinein in diese einzigartige Felsenwelt – zur Rifugio Fonda-Savio, einer kleinen, urigen Hütte auf einem Felssockel über dem Misurinatal. Zwischen Nebel, Abendlicht und dem Echo von Stein zu Stein erlebten wir zwei Tage voller Kontraste: wild und still, nah und weit, verwinkelt und frei.

23. August 2024 – Im Labyrinth der Cadini
Es ist früher Morgen, als wir vom Misurinasee aufbrechen. Der Himmel ist klar, die Luft noch kühl, und vor uns erhebt sich die Cadini-Gruppe – zerklüftet, dramatisch, wie aus einem alten Traum gemeißelt. Der Misurinasee (Lago di Misurina) liegt auf 1.754 Metern Höhe inmitten der östlichen Dolomiten – eingebettet in ein malerisches Hochtal und umgeben von einigen der eindrucksvollsten Gipfel der Region: Drei Zinnen, Cadini di Misurina, Monte Cristallo und Sorbole. Mit seiner ruhigen Wasserfläche, die an windstillen Tagen wie ein Spiegel wirkt, ist der See einer der bekanntesten Aussichtspunkte der Dolomiten – und gleichzeitig ein Ausgangspunkt für zahlreiche Wanderungen, Klettersteige und Höhenwege.
Trotz seiner Beliebtheit strahlt der Misurinasee in den frühen Morgen- oder Abendstunden eine besondere Stille und Weite aus. Die Atmosphäre ist klar, das Licht oft dramatisch, und die Kulisse mit den schroffen Gipfeln, den dunklen Nadelwäldern und den alten Grandhotels erinnert an eine vergangene Zeit.
Der See ist bequem mit dem Auto oder öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar und eignet sich hervorragend als Startpunkt für Touren in die Cadini-Gruppe, zur Fonda-Savio-Hütte oder zu den Drei Zinnen. Bei klarem Wetter zählt der Rundweg um den See zu den fotogensten Spaziergängen in den Dolomiten.
Der Steig zur Rifugio Fonda-Savio windet sich zunächst durch Latschen und Geröll, bevor er in die schroffe Welt aus Türmen, Graten und engen Schluchten eintaucht. Die Cadini sind anders als die gewohnten Dolomiten-Postkarten: weniger weit, mehr nah, verwinkelt, geheimnisvoll. Jeder Schritt eröffnet neue Perspektiven, und man hat das Gefühl, durch ein steinernes Labyrinth zu wandern.
Versteckt zwischen Zinnen, Türmen und Schluchten liegt das Cadin dei Tocci – eines der einsameren Kare in der zerklüfteten Cadini-Gruppe der Dolomiten. Umrahmt von fast senkrecht aufragenden Wänden und scharf gezeichneten Graten, wirkt dieser abgelegene Talkessel wie eine steinerne Arena: wild, still, monumental. Unterwegs eröffnen sich immer wieder dramatische Ausblicke auf die steil aufragenden Nadeln der Cadini und zurück zum Misurinatal. Je tiefer man in den Cadin dei Tocci vordringt, desto mehr verschwindet die Welt – zurück bleiben nur Fels, Geröll, Wind und Weite.
Im Cadin dei Tocci kreuzen sich keine großen Wanderrouten, und gerade deshalb herrscht hier eine besondere Stille und Abgeschiedenheit. Der Ort eignet sich hervorragend für eine kurze Rast, eine ausgedehnte Foto-Pause oder einfach nur zum Staunen. Umgeben von den Zacken der Torre del Diavolo, der Cima Cadin dei Tocci und anderen Felstürmen, fühlt man sich wie im Zentrum eines natürlichen Amphitheaters.
Nach gut 1,5 Stunden erreichen wir die Fonda-Savio-Hütte (2.367 m) – spektakulär gelegen auf einem Felsbalkon zwischen steil abfallenden Wänden. Der Blick reicht bis zur Cristallo-Gruppe, zum Monte Piana, und tief hinab ins Tal. Die Hütte ist klein, herzlich, ursprünglich – mit einfachen Betten, gutem Essen und echtem Hüttencharme.
Die Rifugio Fonda-Savio liegt auf 2.367 Metern Höhe inmitten der Cadini di Misurina, einer wild zerklüfteten Felsgruppe südlich der Drei Zinnen. Die kleine, urige Schutzhütte thront auf einem felsigen Absatz über dem Tal von Misurina – umgeben von steilen Wänden, schmalen Kareinschnitten und einer beeindruckenden Felskulisse. Sie ist ein idealer Ausgangspunkt für alpine Übergänge, Kletterrouten und Höhenwege wie den Sentiero Bonacossa, aber auch für einfache Wanderungen mit Panoramablick. Erreicht wird die Hütte meist vom Lago di Misurina aus über den Col de Varda Sessellift oder direkt zu Fuß vom Parkplatz am Val Popena Bassa. Der Aufstieg dauert etwa 1,5 bis 2 Stunden, ist gut markiert und führt über abwechslungsreiche Steige. Die Fonda-Savio-Hütte wird in den Sommermonaten bewirtschaftet (ca. Juni bis Mitte September) und bietet einfaches Lager, warme Küche und eine sehr persönliche Atmosphäre. Besonders abends, wenn das Licht weicher wird und die Schatten der Zacken länger werden, entfaltet der Ort seinen besonderen Zauber.
Am frühen Nachmittag brechen wir noch einmal auf – diesmal leicht, ohne Gepäck. Der Pfad zur Forcella della Torre führt hinter der Hütte empor, zuerst über Schuttfelder, dann in engen Serpentinen zwischen bizarren Felstürmen hindurch. Je höher wir steigen, desto dramatischer wird die Landschaft: grau, zerklüftet, fast surreal. Die Zacken der Cadinischließen sich enger um uns, die Geräusche des Tals verschwinden.
Oben, auf der Forcella della Torre (2.400 m), öffnet sich ein schmaler, windiger Sattel mit Blick in ein weiteres steinernes Kar. Die Nachmittagssonne steht schräg auf den Flanken, die Schatten wachsen, und die Welt scheint stillzustehen. Es ist einer dieser Momente, in denen keine Worte nötig sind – nur der Blick, der Atem, das Staunen.
24. August 2024 – Rückweg mit Weitblick
Am Morgen ist es ruhig. Nebelschwaden hängen zwischen den Zacken, und das Frühstück auf der Terrasse hat etwas Magisches. Noch liegt der Schatten schwer über dem Tal, und nur ein fahles Blau färbt den Himmel hinter den Felsgraten. In der klaren Bergluft ist jedes Geräusch verstärkt – das Knirschen der Schuhe auf dem Schotter, das Klirren einer Tasse im Hüttenraum, der erste Windhauch über den Kareinschnitten. Dann, fast lautlos, beginnt das Licht zu wandern. Erst glühen die Zacken der Cima Cadin dei Tocci auf, dann die schroffen Spitzen rund um die Forcella della Torre. Die Cadini di Misurina, in der Dämmerung noch grau und kantig, leuchten plötzlich in zartem Gold, dann in tiefem Orange. Jeder Fels wirft lange Schatten, jedes Detail tritt hervor – eine steinerne Landschaft wird lebendig. An der Hüttenterrasse stehen nur wenige, in Decken gewickelt, mit dampfendem Kaffee in der Hand. Kein Wort ist nötig. Der Sonnenaufgang an der Fonda-Savio-Hütte ist kein Spektakel – er ist ein Moment. Einer von denen, die bleiben.
Wir steigen auf einem anderen Weg ab, queren unterhalb des Kessels und blicken immer wieder zurück: auf das Gewirr der Zacken, das hinter uns langsam im Dunst verschwindet.
Diese zwei Tage in den Cadini sind mehr als eine Hüttenübernachtung – sie sind eine Reise in eine andere Welt, ein Ausflug in die dramatischste Ecke der Sextner Dolomiten, stiller als die Drei Zinnen, aber nicht minder eindrucksvoll.
Nur wenige Kilometer unterhalb der weltberühmten Drei Zinnen liegt ein kleiner, stiller See, der oft im Schatten seines großen Nachbarn steht – und doch einen ganz eigenen Zauber entfaltet: der Lago d’Antorno. Eingebettet in dunkle Wälder, mit Blick auf die Cadini di Misurina im Süden und die Nordwände der Drei Zinnen im Rücken, wirkt der See wie ein ruhender Spiegel inmitten der schroffen Felsenwelt der Dolomiten.
Der Lago d’Antorno liegt auf etwa 1.860 Metern Höhe an der Mautstraße, die von Misurina zur Auronzo-Hütte führt. Er ist leicht erreichbar, umgeben von Moorwiesen und Lärchen, und bietet vor allem in den frühen Morgen- oder späten Abendstunden spektakuläre Lichtstimmungen – dann, wenn sich die Dolomitengipfel im Wasser spiegeln und die Geräusche des Tages langsam verstummen.
Der See ist ideal für einen kurzen Stopp vor oder nach einer Drei-Zinnen-Wanderung, für einen stillen Spaziergang oder als Fotomotiv im warmen Licht. Wer früh kommt, kann mit etwas Glück die Alpenglühen-Spitze der Cadini-Gruppe im Wasser glühen sehen – ein Moment voller Stille und Schönheit, ganz ohne Trubel.
Nach zwei Tagen zwischen Felszacken, Steigen und stillen Momenten kehren wir zurück – hinunter ins Tal, zurück zur Welt, wie sie vorher war. Der Weg führt über Schotter und Wiesen, vorbei an Latschen und letzten Blicken zurück zur Fonda-Savio-Hütte, die langsam im Fels verschwindet.
Unten, am Lago di Misurina, empfängt uns wieder das Leben: Stimmen, Schritte, ein Café, Kinderlachen, das Glitzern des Sees. Und doch fühlt es sich anders an. Der Blick schweift über das Wasser, hinter dem sich die Cadini di Misurinaaufbauen – zerklüftet, geheimnisvoll, voller Erinnerungen.
Wir setzen uns ans Ufer. Keine Eile. Nur noch einmal schauen, durchatmen, spüren, wie die Ruhe der Berge noch nachklingt. Der Lago di Misurina wird für diesen Moment zum Spiegel nicht nur der Landschaft – sondern auch dessen, was diese zwei Tage hinterlassen haben: Stille, Erdung, und das leise Gefühl, zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen zu sein.
